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Jahr: 1920-1946
Bemerkung:
ArtikelNr. 9879

 

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Lebenserinnerung des Ernst Flessa (1867 – ca. 1948). Fideikommiss Ponikau Pappus, Füssen St. Mang, Osterberg Babenhausen, Augsburg

Ernst Flessa kommt am 15.2.1867 in Augsburg zur Welt. Nach der Kreisrealschule arbeitet er ab 1886 in Fürstlich Fuggerschen Forstdiensten in Babenhausen in Bayerisch Schwaben. 1887/88 dient er als Einjährigfreiwilliger beim bayerischen IR 3. 1894 erhält er eine Stelle als „Rentenverwalter“ in Niederraunau bei Krumbach. 1895 ernennt ihn Wilhelm Freiherr von Pappus-Trazberg-Ponickau, Freiherr von Laubenberg u. Rauhenzell (und Generalbevollmächtigter seiner Frau, Katharina Freifrau von Pappus und Trazberg-Ponickau) zum „Specialverwalter der zur Fideicommiss-Herrschaft gehörigen Güter St. Mang und Hopferau und Niederriederhof“ mit Sitz in St. Mang in Füssen. Nach dem Verkauf der Güter im Jahr 1909 wird Flessa nach Osterberg (nahe Babenhausen) versetzt, wo er bis zur Pensionierung 1925 tätig ist, er verwaltet 20 Jahre lang Gut Rauhenzell. Anschließend lebt er mit seiner Frau nahe des Westfriedhofs in Augsburg (Stadtbergerstraße, Pfersee). Er stirbt nach 1948.

Lebenserinnerungen, 4°, ca. 100 Blatt, teils maschinenschriftlich (mit handschr. Korrekturen), teils Matritzenkopie. Der Text entstand in mehreren Schüben zu verschiedenen Lebensjahren des Urhebers. Zu Beginn schreibt er: "Auf Wunsch meines Bruders Wilhelm schreibe ich [1920] als Beitrag zur Familienchronik nachstehende Aufzeichnungen aus meinem Leben nieder (v.J. 1891 an)." Bis 1943 schreibt er (oft am Ende eines Jahres) einige Seiten zu seinem Leben (das er ab 1926 im Ruhestand verbrachte). Dazu kommen zahlreiche Schriftstücke, wie offizielle Urkunde und Dokumente, belletristische Manuskripte, private Briefe… Auch „Die Entwicklung des des Protestantismus in Füssen“ (Handschriftliches Manuskript, 3 doppelseitig beschriebene Blatt, um 1910) oder „Auszug aus den Erinnerungen des Freiherrlich von Pappus-Ponikauschen Güteradministrators Ernst Flessa.“ ("Während meiner Dienstzeit in Füssen fiel auch ein Prozeß mit der Stadt Füssen wegen Versorgung des Herrsch. Klosterbesitzes St. Mang mit Trinkwasser. ..." 3 Blatt, maschschr. Kopie um 1920).




Aus seinen Lebenserinnerungen.
Er schreibt über die Jahre in Füssen: „Der Zugezogene wurde als ‚Reingeschmeckter‘ behandelt. Dazu kam, dass auch Baron Pappus bei der Füssener Bürgerschaft wenig beliebt war. … Bei der eigenartigen Lage des herrschaftlichen Besitzes in Füssen und Faulenbach gab es .. häufig Differenzen zwischen der Herrschaft .., der Stadtgemeinde, der Seilerwarenfabrik und Kirchenverwaltung. ... Inzwischen dauerten die Verhandlungen mit Graf Dürckheim wegen Verkaufes der Herrschaft Sct. Mang weiter und führten .. im März 1909 zur notariellen Beurkundung. Der Kaufpreis betrug 375.000 Mark. … [Im Mai] erfuhr ich zu meinem grenzenlosen Erstaunen, dass Graf Dürckheim einen Kuhhandel getrieben hatte. … Er hatte nämlich seinen ganzen Besitz .. wieder an die Stadt Füssen verkauft. … Da von dem beabsichtigten Kauf von Sct. Mang durch Vermittlung des Grafen D. nur das Gemeindekollegium und der Magistrat Kenntnis hatten, herrschte darüber in Füssen große Aufregung. … [Es] ging eine wüste Hetze gegen mich los. Einige Bürger, die den Sachverhalt kannten und mich verteidigten, wurden sogar verprügelt. …
In Füssen trat ich auch in Verbindung mit Kurat Frank, dem bekannten .. Kämpen auf dem Gebiete der Heimatkunde und Heimatforschung. Er ist ein prächtiger Mensch mit urgesunden und durchaus ureigenen Anschauungen [gemeint ist wohl der in Günzburg geborene Christian Frank (1867-1942), Priester, Heimatforscher und Euthanasiebefürworter]. Wir haben viel zusammen gearbeitet. Mir bot das ehemalige Klosterarchiv Sct. Mang einen reichen Quell für .. Forschungen. Ich rechnete es mir als ein besonderes Verdienst an, dass es mir gelang, dieses Archiv mit seinen .. alten Urkunden beim Verkaufe .. gerettet zu haben. Es wurde hierher nach Osterberg überführt. ...
Ich war auch 6 Jahre Vorstand des evangelischen Vereins in Füssen. Als sich .. der .. Wunsch .. nach einem eigenen Gotteshaus regte, ergriff ich eine günstige Gelegenheit und kaufte einen über zwei Tagwerk großen Bauplatz um den spottbilligen Preis von 2000 M für das Tagwerk.

….. Nach dem Tode der Baronin Pappus i.J. 1913 ging das Ponickau'sche Fideikommiss an die Frau Baronin von Malsen geb. Ponickau über. Dass sie in diesen Besitz gelangte, ist nur einer Reihe für sie günstiger Zufälligkeiten zuzuschreiben. Ihr Vater geriet in die Hände von Juden und hat sich erschossen, da ihm sein Vater nicht mehr half. Es waren noch drei Brüder vorhanden, die starben. [So] war Baronin Malsen die letzte geborene Ponickau der bayerischen Linie. ... Als Wohnsitz für die Urlaubs- und Sommerszeit wurde Schloss Osterberg gewählt. Die Herrschaften hatten sich rasch in die Rolle der feudalen Gutsbesitzer hineingefunden. ... Es wurden umfangreiche Um- und Neubauten ausgeführt, die kein Ende nehmen. Auch heuer (1920) wurden über 100000 Mark verbaut."

1925 schreibt er über das Jahr 1919: „Unseren bayer. Revolutionshelden, den Juden Kurt Eisner … lernte ich in Babenhausen kennen. Wie ein geborener Monarch fühlte er den Beruf, sich dem Volk zu zeigen, und so kam er bei einer Rundreise durch Mittelschwaben auch nach Babenhausen. Es war gerade Markttag und so hatten sich neben den Einheimischen einige hundert Bauern aus der Umgegend eingefunden. Gegen Mittag rollte bei strömendem Regen ein Staatsauto mit blau-weissen Fähnchen heran, dem ein älterer hagerer Mann in gebückter Haltung, grossem Schlapphut, etwas schäbigem schwarzem Gehrock, zersaustem wallendem Vollbart und langen Künstlerhaaren entstieg. Ein Mittelding zwischen galizischem Juden und dem Typ eines überspannten Künstlers, Schriftstellers oder Malers. … Ihm folgte seine noch recht jugendliche (dritte?) .. Frau und zwei hübsche Kinder von 8-12 Jahren, die man als Tochter oder Enkel halten konnte. Die Rede Eisners war fließend, man merkte, dass sie schon oft gehalten wurde, aber ohne Leidenschaft …. Ein Dutzend Feldgrauer, wie man sie damals als Spartakisten bezeichnete, brüllte bei den einzelnen abgedroschenen Revolutionsschlagern Beifall, der von einer Schar Schulkinder aus sicherer Entfernung mit großem Geschrei erwidert wurde, was jedesmal große Heiterkeit auslöste. …
Die Gutsherrschaft und namentlich der hohe Herr bekam es beim Ausbruch der Revolution mit der Angst um das teure Leben und die angenehme Beigabe des von seiner Frau ererbten Besitzes. ….“

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