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Jahr: verkauft
Bemerkung:
ArtikelNr. 7098

 

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Stolp / Slupsk, Pommern 1933-1947. Private Erinnerungen um 2008. NS-Zeit, Krieg, Vertreibung

2 im Copyshop und von privat gefertigte Bücher, um 2008, je 4°. Bd. 1 („Nur ein Pommer“) mit ca. 98 handschriftlich beschriebenen Blatt mit mont. s-w-Abzügen um 2008 (nach privaten Photos des Autors), Bd.2 („Stolp, Geschichte einer Stadt“) mit ca. 125 einseitig bedruckten Blatt mit s-w-Abb. (meist wohl nach aus dem Internet gefundenen oder aus Büchern kopierten Bildern), Tabakrüchig, berieben, Bilder in Bd. 1 entnommen, sonst gut.

Es handelt sich um ca. 2008 verfasste Kindheits- und Jugenderinnerungen eines 1933 in Stolp geborenen Mannes, der seine Kindheit und Jugend bis 1947 in der Stadt verbrachte. Sein (ihm unbekannt gebliebender) Vater soll als bekennender Nazi-Gegner durch Haftbedingungen um den Verstand gebracht worden und 1941 durch Euthanasie ums Leben gekommen sein.

Bd. 1 („Nur ein Pommer, Trilogie, Teil 1 1933-1947, Teil 2 1947-1961, Teil 3 1961-20xx“) beschreibt eindringlich Familie und Großwerdens des Autors, der Bericht endet ca. im Juli 1945, SS. 70 bis 95 (von 98) behandeln Ereignisse des Jahres 1945.
Bd. 2 („Stolp, Geschichte einer Stadt in Hinter-Pommern“) bringt von S. 20-69 eine Geschichte von Stolp und Umgebung (S. 46-51 enthalten Erinnerungen des Autors) und von S. 70-111 Berichte über die Zeit vom Januar 1945 bis August 1947.

In teils gelungener Sprache (und ohne rechtslastige oder revanchistische Geisteshaltung) erzählt der Mann von Stolp, seiner Familie und seiner Jugend. Bd. 1 ist von hohem kulturgeschichtlichem Wert, denn hier wird das Stolper Alltagsleben der 1930er und 1940er facettenreich geschildert. Ebenso sind die Erinnerungen des Mannes an seine große meist ebenso aus Stolp stammende Verwandtschaft festgehalten.
Bd. 2 ist nur partiell von vergleichbarer Qualität: Zwar ist hier der behandelte Zeitraum um den Abschnitt bis zur Umsiedlung im August 1947 erweitert, aber immer wieder ist der autobiographische Text durch (der Sekundärliteratur entnommene) Fakten zu Geschichte unterbrochen.


Detailliert beschreibt der Autor in beiden Quellen den ersten Kontakt mit der siegreichen russischen Armee.
Bd. 2 (S.83): „In der Nacht vom 7. zum 8. März [1945] begann das große Sterben der Stolper Mittelschicht. Geschäftsleute querbeet, Kommunal- und Justizbeamte, Polizeiangehörige ..., Banker, Bonzen u.d.m. wählten den Freitod, gemeinsam mit ihren Familien. ... So nahmen sie denn Gift, gaben sich die Kugel, erhängten sich oder gingen ins Wasser der Stolpe. 800-1000 sollen es gewesen sein, die den Freitod wählten. ..“ Am 6. flieht die Familie (Mutter, Großeltern) des Autors gen Westen. Den Einmarsch der Russen erleben sie am 8.3. in Stresow. Zu Vergewaltigungen und Übergriffen kommt es vorerst nicht. Erst als in der Nacht vom 8. zum 9.3. die zweite russische Welle in Stresow halt macht, ereignen sich schreckliche Dinge (Bd. 2, SS. 85-86): „Es war, als wäre die gesamte Satansbrut auf die Menschheit losgelassen worden. ... Plötzlich wurde die Stubentür eingetreten. Der Ruf „Frau komm“ erscholl nun öfter. Die ersten Frauen wurden nach draußen gezerrt. ... Die ganze Nacht wiederholte sich dieser Vorgang. ... Wir schrieen vor Angst, ich pinkelte in die Hose, es war grauenvoll. Vor allem dann, wenn sich mehrfach vergewaltigte Frauen mühsam in die Stube zurück quälten. ... Eine besondere Behandlung ... erfuhren Großvater und ich. 3x im Verlauf dieser Nacht holten sie uns, stellten uns an die Scheunenwand. Wir sollten verraten, wo sich der Hausherr (Ortsbauernführer) versteckt hielt. Mal sollte Großvater erschossen werden, mal ich. Es war ein Wechselbad der Gefühle, begleitet von MP-Salven in die Scheunenwand. .... Letztlich gaben sie auf. Ich glühte vor Hass. Großvater war froh, dass wir lebten. Langsam wurde es ruhig, Stille herrschte. Wir fielen alle in einen regelrechten Erschöpfungsschlaf. Obwohl die Russen zuvor noch gedroht hatten, alles anzuzünden...“
In Bd. 1 (S. 84) heißt es zu den Ereignissen: „Wir waren inzwischen in einem großen Raum eingesperrt worden ... Dann kamen sie, die Russen, es ging los. Sie stürzten herein, rissen Uhren, Ringe, Schmuck mit Gewalt an sich, sie fluchten, brüllten und feuerten in die Zimmerdecke. Den Frauen wurde teilweise die Kleider vom Leib gerissen und die ersten grausamen Vergewaltigungen erfolgten. Im Raum ein einziger Schrei .... Dazwischen das Gejohle der Russen, sie standen Schlange. Ich habe mit geschrieen. Vor Schreck und vor Angst habe ich mich vollgepinkelt. Oma hatte mich, d.h. den Kopf, in ihren Mantel eingewickelt. Ich weiß nicht wie lang. . ... Opa und ich erhielten in dieser Nacht noch eine Sonderbehandlung. 3-4x wurden wir rausgeholt und an die Wand gestellt. Mal sollte ich, mal sollte Opa erschossen werden. Rings um unsere Körper klatschten Kugeln in die Wand ... Zum Ende dieser Nacht konnte Oma nicht mehr weinen. Opa war um Jahre gealtert. ... Selbst heute noch kann und will ich keine weiteren Einzelheiten zu diesem 3. Tag unseres Fluchtversuches schreiben. ...“

Am 9. kehrt die Familie nach Stolp zurück, wo der Autor die russische Herrschaft erlebt.
Bd. 2, S. 93: „Da gab es jede Menge herumliegende Munition, schweres Kaliber, am begehrtesten waten die 8.8 Granaten. Fanden wir sie, wurde das Geschoss von der Hülse geschlagen (am Chausseestein), die Brennstäbe entnommen , aneinander gereiht und angezündet. Gewürzt mit dem Zündbeutel gab das eine Flamme, die uns jubeln ließ. .. So ca. 4 Wochen lang waren wir stolze Pferdebesitzer. [Es waren] Pferde, die die Fluchtbewegungen mit viel Glück in freier Natur überstanden hatten Eingefangen und in Gartenlauben gehalten, lieferte die Natur das Futter. Geritten ohne Sattel, ein Stück Wäscheleine diente als Zaumzeug. Eine herrliche Zeit, bis die Russen dem ein Ende bereiteten. ...“

Im August 1945 übernimmt Polen die Stadt, der Autor erlebt nun 2 Jahre des fragilen Miteinanders von Polen und Deutschen. Diese bislang kaum dokumentierte Zeit wird in Bd. 2 auf ca. 15 Seiten behandelt. Im August 1947 verlässt dann die letzte deutsche Bevölkerung ihre Notbehausungen in Stolp und wird in Güterwaggons nach Deutschland transportiert.

(c) Ingo Hugger  2020 | livre@cassiodor.com